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Den Tagen mehr Leben geben

Annegret Knoth wird nicht mehr lange leben. Das weiß sie. Wie lange aber, das weiß sie nicht. Ein paar Wochen? Einige Monate? Sie stützt ihren Kopf aufs Kissen und zupft ihre rote Rüschenbluse zurecht. „Sitzt meine Frisur?“, lacht die 77-Jährige und blickt aus dem Fenster. Die Mittagssonne taucht das Zimmer in leuchtende Farben. Annegret Knoth liegt auf der Palliativstation des Josephs-Hospitals – und sie fühlt sich gut.

Ihre Leidensgeschichte beginnt vor etwa sechs Jahren. Als sie den hartnäckigen Husten für eine Erkältung hält. Oder für Asthma. Der Husten aber einfach nicht verschwinden will. Immer häufiger gerät sie außer Atem. Beim Treppensteigen. Beim Spazierengehen. Im Garten, wenn sie ihre geliebten Rosensträucher schneidet, die „so schön aussehen wie bei Dornröschen“, wie sie sagt. Erst als sie sich immer ausgezehrter fühlt, die Beschwerden nicht mehr auszuhalten sind, geht Annegret Knoth zum Arzt. Die Diagnose: Lungenkrebs. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Sie weiß, wie tückisch die Krankheit ist. Wie schlecht es um die Heilungschancen steht. Ihr Ehemann litt an COPD, einer chronischen und nicht heilbaren Lungenkrankheit. Zum Ende hin bekam er kaum noch Luft. 2014 verschluckte er sich beim Essen – und starb. Er war der zweite Ehemann, den sie beerdigen musste. Ihr erster starb an einem Herzinfarkt. Genau wie ihr ältester Sohn. Was sie alles Schlimmes erlebt habe, das wünsche sie keinem, sagt sie. Aber aufgeben? Das gibt es in ihrem Wortschatz nicht. Sie ist eine Kämpferin. „Mich kriegt keiner klein.“ Erst recht kein Krebs, oder? Mit aller Kraft stemmt sie sich gegen die Tür, durch die der Krebs in ihr Leben dringen möchte. Chemotherapien, Bestrahlungen: Die Versmolderin macht alle empfohlenen Therapien mit. Während die Krankheit eine Attacke nach der anderen fährt, versucht sie, ihr normales Leben weiterzuführen – so lange, wie es irgendwie geht. Es ist Januar 2019, als sie sich vor Schmerzen krümmt, sie sich nicht mehr alleine waschen und anziehen kann. Der Krebs hat gestreut und Tochtergeschwülste, sogenannte Metastasen gebildet. Keine Medizin, keine Therapie kann Annegret Knoth jetzt noch heilen. Sie werde bald sterben, teilen ihr die Ärzte mit. Es ist ein Schock – und der erste Moment in 77 Lebensjahren, in dem sie die Hoffnung verliert. „Ich konnte und wollte einfach nicht mehr.“ Weil die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sind, kommt sie auf die Palliativstation des Josephs-Hospitals. 

Annegret Knoth ist unheilbar an Lungenkrebs erkrankt. Auf der Palliativstation des Josephs-Hospitals findet sie einen Weg aus den Schmerzen – und zurück zu ihrer Lebensfreude.

Die letzte Lebensphase lebenswerter machen

Den Weg in den Tod neu zu überdenken – und sterbenskranken Menschen im sozialen und spirituellen Bereich beizustehen. Dieser Vision widmete sich Dr. Cicely Saunders (1918-2005), die als Wegbereiterin der modernen Palliativmedizin gilt. 1967 gründete sie das St. Christopher’s Hospice in einem Vorort in London. Es war eine Revolution im Umgang mit Sterben und Tod, weil es um die Qualität des Lebens ging – ganz gleich, wie kurz die verbleibende Zeit auch sein mag. Das Ziel der Palliativmedizin ist es, Beschwerden zu lindern und dem Patienten zu mehr Lebensqualität zu verhelfen. Auch die Palliativstation des Josephs-Hospitals orientiert sich an dieser Leitidee. Dafür arbeiten Ärzte und Pflegende Hand in Hand mit Physiotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeitern, Seelsorgern und weiteren Therapeuten. Zu Beginn versucht das interdisziplinäre Team, zusammen mit dem Patienten sowie seinen Angehörigen, gemeinsame Therapieziele zu erarbeiten und zu erreichen. Über alle Erfolge und Probleme, die während der Behandlung auftauchen können, wird sich regelmäßig ausgetauscht. Dank dieser engmaschigen und ganzheitlichen Behandlung entdeckt das Team Symptome, aber auch Wünsche der Patienten, die sonst vermutlich verborgen blieben. Das können Medikamente, Massagen, Aromaöle, aber manchmal auch Lieblingsmahlzeiten sein, die auf Wunsch zubereitet werden. Wichtig ist, nicht nur die körperlichen, sondern auch die sozialen, spirituellen und seelischen Bedürfnisse der Patienten im Blick zu behalten. „Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ Dieses Zitat von Dr. Cicely Saunders prägt bis heute das Handeln der Palliativmedizin – und die Arbeit des ganzen Teams im JHW.

Das Team auf der Palliativstation bezieht die Angehörigen der Patienten stark mit ein (auf dem Bild zu sehen: Verpflegungsassistentin Petra Erpenbeck).

Die Lebensfreude kehrt zurück

Auf der Palliativstation erlebt Annegret Knoth etwas, das sie seit langer Zeit nicht kannte: Ihre Schmerzen lassen nach. Bereits nach wenigen Tagen wirkt das Morphin, auf das sie die Ärzte eingestellt haben. Sie kann endlich wieder durchatmen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sanfte Massagen lösen die Verspannungen in Muskeln und Gliedern, intensive Gespräche, die weit über Leben und Tod hinausgehen, lösen die Ängste vor dem Ungewissen. Schritt für Schritt geht es bergauf. Erst schafft sie es, sich auf die Bettkante zu setzen. Dann geht sie einige Meter am Stück. Zuhause, kurz vor ihrem Aufenthalt im JHW, zog sie die Jalousien in ihrem Schlafzimmer immer zu. Jetzt genießt sie die frische Luft, die durch das offene Fenster hineinströmt. Die 77-Jährige wirkt erleichtert. „Das verdanke ich den Mitarbeitern der Palliativstation, die sich super um mich kümmern. Als ich hierhin kam, war das Wort ‚palliativ’ für mich gleichbedeutend mit ‚Sterben’. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir noch einmal so gut geht.“ Legte sich um alle ihre Gedanken zuletzt ein dunkler Schleier, so tankt sie im JHW neue Lebensfreude. Lebensfreude, für die sie bekannt und beliebt ist. „Dort, wo sich Fuchs und Igel gute Nacht sagen“, wie die Versmolderin witzelt. Dort, wo sie als Kümmerin hinter der Theke stand, in der kleinen Kneipe, die sie zusammen mit ihrem zweiten Ehemann führte. Wo sie später als Köchin, Putzfrau und Gute-Laune-Macherin in Personalunion das Lokal eines Tennisklubs bewirtschaftete. Dort, wo ihre Heimat ist – und sie zusammen mit der Familie ihrer Tochter und der temperamentvollen Dogge Else lebt.

Drei Wochen bleibt Annegret Knoth insgesamt auf der Palliativstation. Es vergeht kein Tag, an dem sie keinen Besuch bekommt. So gerne, wie die Leute früher auf einen Plausch in ihr Lokal kamen, so gerne kommen sie heute auf ihr Zimmer im JHW. „Ich bin zwar nicht mehr fit auf den Beinen, aber reden kann ich wie eh und je“, lacht sie. Erst als sie auf ihre Rückkehr nach Hause zu sprechen kommt, wird sie ernster. Klar, auf der einen Seite freue sie sich auf ihre Familie. Auf zwei Töchter, einen Sohn, sechs Enkelkinder und einen Urenkel. Vor allem auf die neunjährige Enkelin Lotte, die „beste Krankenschwester der Welt“, wie die Oma stolz erzählt. Aber was ist mit den schlimmen Schmerzen? Kommen sie wieder, wenn sie nicht mehr in Behandlung ist? Die Ärzte und Pflegenden können es ihr nicht sagen. „Aber sie haben mir versprochen, ich dürfe zurück auf die Palliativstation, wenn es mir wieder schlechter gehen sollte. Ich finde, das ist ein beruhigender Gedanke.“ Es ist ein schöner Tag, ein sonniger Tag. Ob sie Angst vor dem Tod hat? Klar, wer habe die nicht? Annegret Knoth aber fühlt sich mit der Welt im Reinen. „Ich bin bereit zu gehen“, sagt sie. Nur die Rosensträucher, die schönen Rosensträucher im Garten, die würde sie gerne noch einmal leuchten sehen.


Ausgabe Nr. 1 | 2019

Themen:
Patientengeschichten

Kontakt:

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Fax: 02581 20-1758
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